Wir arbeiten regelmäßig mit Menschen in Handlungsfeldern, in denen Gewalt zum Alltag gehört – wir arbeiten mit Polizisten, Rettungskräften, Lehrern. Gerade erst waren wir an einer Förderschule. Gegen Ende der Fortbildung berichtete eine Klientin, dass sie vor Kurzem in einer Situation anwenden musste, was sie im Rahmen unserer Fortbildunggelernt hat.
In der vorausgegangenen Einheit erzählten uns die Lehrer u.a. von einem Schüler, der so gut wie jeden Tag spontan und aggressiv im Klassenraum um sich schlägt. Und dabei so ziemlich alles mitnimmt, was im Weg steht. Der Schüler ist groß, kräftig, nicht zu kontrollieren. Daraufhin hatten wir die Situation nachgestellt, dabei möglichst viele Informationen aus der realen Umgebung einbezogen und verschiedene Lösungen durchgetestet. Wie die Lehrerin gestern berichtete, hat funktioniert, was vorher weder denk- noch umsetzbar gewesen war. Der Schüler konnte in Schach gehalten und die Situation effektiv entschärft werden. Nach nur einmaliger, ca. 20-minütiger Beschäftigung im Rahmen einer Fortbildung? Wie ist das möglich?
Antwort: Mit einfachen körperlichen Mitteln, mit Taktik und vor allem: mit Entschlossenheit. Selbstschutz und Selbstverteidigung als Antwort auf gewaltsame Angriffe sind zielorientiert: Sie müssen funktionieren, also effektiv sein.
Für den Unterricht an unserer Akademie ist das die zentrale Orientierung. Guter SV-Unterricht dreht sich (1) um sogenannte hard skills. Hard skills umfassen alles, was man mit dem eigenen Körper machen kann, also treten, schlagen, beißen, laufen, schreien etc. Die Anwendung dieser Mittel hat dabei so einfach, so natürlich und so grob wie möglich zu sein. Weil nur das unter Stress funktioniert. Vergessen Sie also für den SV Bereich Ihre Kinovorstellung vom coolen Kämpfer! Vergessen können Sie in diesem Sinne übrigens auch all jene schönen Kampfchoreographien mit Partnern, die es in vielen Kampfkunstschulen bis zur Meisterschaft auswendig zu lernen gilt. Sie versagen im Ernstfall. Zielgerichtetes Handeln unter Stress ist grob und einfach – und nur deshalb erfolgreich.
Nun nützen allerdings die besten (groben und einfachen) Kampffähigkeiten nichts, wenn man den Zeitpunkt verpasst hat, eine sich nähernde mögliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen. Bei einem entschlossen und hochaggressiv ausgeführten Überfall von hinten gehen auch dem kühnsten Wing Tsun Meister und Hardcore-Krav-Maga-Spezialisten von jetzt auf gleich alle Lichter aus.
Aus diesem Grund geht es gutem SV-Unterricht (2) um die Schulung von Aufmerksamkeit und situativer Wahrnehmung, also um soft skills. Gewalt fällt nicht einfach vom Himmel. Jeder Gewaltausübung gehen regelmäßig Vor-Warnzeichen voraus. Gewalt kündigt sich an. Beim Angreifer durch Worte, Gesten, Gewichtsverlagerung. Bei der „auserwählten“ Zielperson durch ein mulmiges Bauchgefühl, das hier gerade etwas nicht stimmt, durch Zittern, rasenden Puls, wacklige Beine etc. Wer das rechtzeitig erkennt und ernst nimmt, kann taktische Entscheidungen treffen und präventiv handeln (z.B. abhauen, die Straßenseite wechseln etc.). Wer aktiv entscheidet und den ersten Schritt tut, hält das Heft in der Hand!
Bei den genannten Stressreaktionen handelt es sich im Übrigen um äußerst positive, weil sinnvolle Mechanismen. Seit der Steinzeit sichern sie ziemlich zuverlässig unser Überleben. Angesichts potentieller Gewalt Angst zu haben, ist gut! Es gilt, auf diese Angst zu hören, sie als positive Energiequelle zu nutzen und in entschlossenes Handeln zu übersetzen, also entweder a) wegzulaufen(„flight“) oder b) zu kämpfen („fight“), wenn Weglaufen keine Option ist. Am Rande: Wer aus Angst heraus aggressiv wird, befindet sich nicht bzw. nicht länger in Schockstarre („freeze“). Das „Einfrieren“ ist neben „fight & flight“ die dritte evolutionär erprobte Überlebensstrategie, getragen vom Prinzip Hoffnung: Stelle ich mit tot, lässt der Säbelzahntiger von mir ab – stimmt doch, oder?!
Ziehen wir Zwischenbilanz: Hard skillsund soft skills, auf sie kommt es an!
Allerdings nützen einem auch beste Wahrnehmung (soft!), dickster Trizeps und härtester Faustschlag (hard!) nichts, wenn drittens (3) die innere Einstellung („mindset“) dazu fehlt, dass für den Selbstschutz und die Selbstverteidigung ein erforderliches Maß an zielgerichteter und entschlossener Gegengewalt notwendig ist. Das muss man verstehen und für sich akzeptieren. So zu denken, ist im Übrigen analog zum „mindset“ der Gegenseite. „Erfolgreiche“ Gewalttäter wissen, was sie wollen. Und das holen sie sich gegen jeden Widerstand mit hoher Aggressivität.
In den letzten Jahren haben wir ziemlich genaue Vorstellungen darüber entwickelt, worauf es in unsere Ausbildung ankommt. Im Zentrum unseres Interesses stehen Fragen des Selbstschutzes und der Selbstverteidigung . Unser Angebot umfasst Krav Maga, Wing Chun und Combatives, die wir in jeweils separaten Kursen unterrichten. Entscheidend ist, dass Wing Chun, Krav Maga und Urban Combatives für unsere Teilnehmer da sind – nicht umgekehrt.
Vielerorts stellen Diskussionen das System, die Linie, den Stammbaum, die Tradition, den Herkunftsort, den Sifu, Meister, den Headinstructor etc. in den Mittelpunkt. Nicht selten erfüllt das den Zweck, die eigene Überlegenheit gegenüber anderen zu belegen. Die dazu vollzogenen Anstrengungen und Verschachtelungen des Denkens sind mitunter enorm – gleich so, als würden die entscheidenden Fragen durch Rumrederei gelöst. Werden sie nicht. Auch durch die häufig beobachtbaren Verhaltens- und Dresscodes nicht, die einen (in Tarnhose oder so) als „wirklich echt wichtigen“ Teil eines großen Ganzen aufgehen und die Wärme sozialer Geborgenheit spüren lassen.
Wing Chun, Krav Maga und Combatives unterrichten wir, weil sie einem effektive Prinzipien und Attribute für den Selbstschutz an die Hand geben. Für das psychologische, biologische und soziale Chaos, das entsteht, wenn man sich selbst schützen muss, helfen nur einfache Mittel und das richtige Mindset.
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